ENERGIE (Hase & Igel)
Welchen Wert freigeistiges Denken haben kann, erleben wir immer wieder dann, wenn wir modifizierte Spiele zugeschickt bekommen, die in der DDR handgefertigt worden. Doch Kreativität braucht seinen Freiraum. Dies erkannten wir auf Neue am letzten Dienstag, als wir die Spiele-AG einer Berliner Kreativgrundschule besuchten. Dort stellten wir unser Nachgemacht Projekt vor und ließen uns inspirieren von den übersprudelnden Impulsen der Schülerinnen und Schüler.
‘Warum wurden Spiele in der DDR kopiert? Denn eigentlich gab es doch Brettspiele.’ Diese Reaktion erfahren wir nicht selten, wenn wir auf das bemerkenswerte und flächendeckende Kulturphänomen der kopierten Spiele in der DDR hinweisen. Zweifelsfrei ist es richtig, dass Spiele produziert wurden. Doch – so sagen Zeitzeugenberichte – hielt sich die Originalität der gefertigten Spiele in Grenzen. Zudem wurden Spiele zum größten Teil als Handlungen der Kinder verstanden. Ihre Legitimation wurde daher vornehmlich im Erziehungsauftrag gesucht, der aus den Spielenden sozialistische und moralische Menschen machen sollte. Diese Ausrichtung hatte Folgen für die Entwicklung und Produktion der Brettspiele:
„Die Erziehung zur sozialistischen Moral ist darauf zu richten, die Kinder zur Liebe zu ihrem sozialistischen Vaterland, der DDR, zur Liebe zum Frieden, zur Freundschaft mit der Sowjetunion und allen anderen sozialistischen Ländern im Geiste des Internationalismus und der Solidarität mit den unterdrückten, für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfenden Völkern zu erziehen…“1
Spiel und das Entwickeln von Spielen war also unmittelbar an einen Zweck geknüpft. Alles was als Zweck-los eingestuft wurde, kam in der Bewertung fast dem “Unsinn” gleich und wurde damit offiziell abgelehnt. Dies trifft insbesondere auf die Spielform zu, die als “freies Spiel” bezeichnet werden kann, da sie jedwede Form von festgelegten Regeln im Vorfeld ausschließt. Dies weisen unter anderem die im Stadtarchiv Chemnitz gefundenen Dokumenten des Rates der Stadt Karl-Marx-Stadt.
„Wie bei jeder Tätigkeit des Kindes hat auch hier die Erzieherin die führende und richtungsweisende Rolle. […] Ein wesentlicher Minuspunkt in unseren Einrichtungen ist das Spiel, was unter dem Begriff Freispiel läuft. Schon aus dem Vorangegangenen können wir erkennen, daß es dies gar nicht geben kann bei einer verantwortlichen Tätigkeit der Erzieherin und Helferin.“2
Eine ganz andere “Erzieher”-Tätigkeit und damit auch eine andere Form der Kreativität erlebten Geis und ich letzten Dienstag bei unserem Besuch einer Berliner Kreativgrundschule. Máren Kruse – Board- & Brandgamedesignerin und Leiterin von Trainingtools.de – lud uns zu einer ganz anderen Form des kreativen Brainstormings ein: Erstmals präsentierten wir unser Spieleprojekt nicht vor Erwachsenen, sondern vor 7-8jährigen GrundschülerInnen. Wir vermittelten ihnen unser Projekt und berichteten von dem Buch, dass ab April erscheinen wird. Die Reaktion der Kinder, die schon seit geraumer Zeit Spieleideen entwickeln und umsetzen, war überwältigend. Nicht nur die Aufmerksamkeit und große Neugier der Kinder erfreute uns, sondern auch die im wilden Brainstorming entwickelten Ideen, wie wir unsere Buchidee verbreiten könnten. Von der Idee des Karotten-Buchs, das wir vor dem Brandenburger-Tor einpflanzen, bishin zum umspannenden Buch-Netz, das wir am Himmelzelt befestigen, so das ein jeder es sehen kann, war alles dabei. Den Gedanken waren keine Grenzen gesetzt und keine Idee wurde bewertet oder gar zurückgewiesen. Máren Kruse schaffte es in geradezu vorbildlicher Weise, den Kindern einen kreativen Raum zu geben, in dem sie sich entfalten können und von denen nicht nur sie profitieren.
Wie die Alternativen in einer Welt aussehen, in der derartige Freiräume nur in eingeschränktem Maße bestehen, erfahren wir im Hinblick auf die Spielelandschaft der DDR. Spielen und die Entwicklung von Brettspielen, für Kinder aber auch Erwachsene, hatte dort als Alltagsphänomen allenfalls randständige Bedeutung. So berichtete uns beispielsweise Lothar Schubert, dass auch in seinem Umfeld wenig gespielt wurde. Diejenigen, für die Spielfreude und vor allem Originalität von Wichtigkeit waren, mussten selbst zur Tat schreiten. Ironischerweise zeigt sich hier gerade der Mangel als Triebfeder höchster Kreativität.
Wolfgang Großkopf zum Beispiel fertigte nicht allein Brettspielekopien an, sondern modifizierte deren thematischen Spielewelten sowie deren Mechanismen. So entwarf er kurzerhand aus dem im Westen berühmten “Spiel des Jahres”-Klassiker “Hase & Igel” eine Variante, die das Spiel – trotz weitgehend gleicher Spieltektonik – in eine andere Wirklichkeit einbettet: “Energie” taufte er sein üppiges Machwerk. Und wie es den wahrhaft kreativen Menschen eigen ist, verheimlichte er seine Idee nicht, sondern teilte sie mit seinem Spielefreund Lothar Schubert. Inspiriert durch Großkopfs Modifikation, griff auch er zum Papier, Pappe und einer großen Flasche des Wunderklebers Chemilat D1301 und variierte Großkopfs Spiel abermals zu “Automobil” – eine Spielekopie über die wir bereits vor berichteten.
Auch wenn der Staat und mangelnde Spieleproduktion den beiden Spielern einige Hindernisse in den Weg legte, erschafften sie sich mit ihrer Kooperation einen kreativen Freiraum, der eine Vielzahl an geistreichen und originellen Spielen hervorbrachte. Wurde der Freiraum auch offiziell nicht gewährt, erlangten sie ihn durch ihre gegenseitige Unterstützung.
So zieht sich diese Lehre wie ein roter Faden fort: Kreativität und Schöpfergeist kommen nur dann zur vollen Entfaltung, wenn der richtige Rahmen geboten ist und man Unterstützung von Personen erfährt, die das Beste aus den Ideen herauskitzeln wollen. So gebührt auch unser Dank für die kreative Bereicherung den Kindern der Kreativgrundschule und ihrer Mentorin Máren Kruse, die uns und unser kommendes Buch unterstützen.
Einen ausgesprochen lesenswerter Bericht zu Máren Kruse und der Tätigkeit an der Berliner Kreativgrundschule wurde kürzlich auf zuspieler.de veröffentlicht.
Autor: Martin
1 Aus dem „Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten” (1985), S. 7.
2 Dokumente des Rates der Stadt Karl-Marx-Stadt über die Berichterstattung und Pläne der Vorschulerziehung, gefunden im Stadtarchiv Chemnitz, o.J., zit. n. FRITSCHE, „Zur Soziologie des Spiels“, S. 104.
Die Antwort auf den Beitrag gibt es hier: http://www.trainingtools.de/2013/03/08/das-gro%C3%9Fe-kippeln/
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